Schweigepflichtentbindungsklauseln in Versicherungsverträgen sind hinreichend eng auszulegen, um das Recht des Versicherungsnehmers auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren. In Altfällen, das heißt vor Anwendung des § 213 VVG, kann es dazu geboten sein, zum Beispiel durch eine verfahrensrechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 17.07.2013 auf die Verfassungsbeschwerde einer Frau hin entschieden, die Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung begehrt.

Die Beschwerdeführerin schloss bei dem beklagten Versicherungsunternehmen eine Berufsunfähigkeitsversicherung ab. Nach den Tarifbedingungen hatte der Versicherte bei der Beantragung von Versicherungsleistungen behandelnde Ärzte, Krankenhäuser sowie Pflegepersonen, andere Personenversicherer und Behörden zu ermächtigen, dem Versicherer auf Verlangen Auskunft zu geben. Als die Beschwerdeführerin wegen Depressionen Versicherungsleistungen begehrte, lehnte sie es ab, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben, bot aber Einzelermächtigungen an. Daraufhin übersandte die Beklagte vorformulierte Erklärungen zur umfassenden Schweigepflichtentbindung der Krankenkasse, zweier Ärztinnen und der Rentenversicherung. Die Beschwerdeführerin lehnte die Unterzeichnung ab und bat um weitere Konkretisierung der gewünschten Auskünfte. Dem kam die Beklagte nicht nach. Die Klage der Beschwerdeführerin auf Zahlung der monatlichen Rente wiesen die Zivilgerichte ab. Der Beschwerdeführerin sei zumutbar gewesen, die Einzelermächtigungen vor der Unterzeichnung selbst weiter einzuschränken oder die in den Einzelermächtigungen genannten Unterlagen selbst zu beschaffen und der Beklagten vorzulegen.

Das BVerfG hat entschieden, dass die gerichtlichen Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Recht auf informationellen Selbstbestimmung verletzen. Könne in einem Vertragsverhältnis ein Partner den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen, sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken. Zwar habe der Gesetzgeber inzwischen in § 213 VVG eine Regelung zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung der Versicherungsnehmer getroffen; diese Vorschrift finde jedoch auf den zu entscheidenden Altfall noch keine Anwendung. Daher hätte es in diesem Fall den Gerichten selbst oblegen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch einen angemessenen Ausgleich mit dem Offenbarungsinteresse des Versicherungsunternehmens zu gewährleisten. Dazu seien die gegenläufigen Belange im Rahmen einer umfassenden Abwägung gegenüberzustellen.

Das Versicherungsunternehmen müsse einerseits den Eintritt des Versicherungsfalls prüfen können, anderseits müsse aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür Erforderliche begrenzt bleiben, so das BVerfG. Allerdings sei es dem Versicherer oft nicht möglich, im Voraus alle Informationen zu beschreiben, auf die es für die Überprüfung des Leistungsfalls ankommen kann. Soweit keine gesetzlichen Regelungen zur informationellen Selbstbestimmung greifen, könne es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen Grundrechtspositionen geboten sein, zum Beispiel durch eine verfahrensrechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und ihn auszugestalten, zähle zu den Aufgaben der Zivilgerichte. Versicherte einer Berufsunfähigkeitsversicherung könnten nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, einen Vertragsschluss zu unterlassen oder die Leistungsfreiheit des Versicherers hinzunehmen.

Nach Auffassung des BVerfG werden die angegriffenen Entscheidungen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen hinreichenden Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen nicht gerecht. Sie trügen den Belangen der Beschwerdeführerin nicht hinreichend Rechnung. Durch die vorformulierten Einzelermächtigungen würde der Beklagten ermöglicht, auch über das für die Abwicklung des Versicherungsfalls erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang Informationen über die Beschwerdeführerin einzuholen. Die benannten Gegenstände der umfassenden Auskünfte – etwa Gesundheitsverhältnisse, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Behandlungsdaten – seien so allgemein gehalten, dass sie kaum zu einer Begrenzung des Auskunftsumfangs führten. Erfasst würden nahezu alle bei den benannten Auskunftsstellen über die Beschwerdeführerin vorliegenden Informationen, darunter auch viele für die Abwicklung des Versicherungsfalls bedeutungslose Informationen. Der Beschwerdeführerin sei, entgegen den angegriffenen Entscheidungen, nicht zuzumuten, die vorformulierten Einzelermächtigungen selbst zu modifizieren oder die erforderlichen Unterlagen eigenständig vorzulegen. Denn damit würde der Beschwerdeführerin auferlegt, die Interessen des Versicherungsunternehmens zu erforschen, und für den Fall, dass die vorgelegten Unterlagen oder die modifizierten Ermächtigungen für unzureichend erachtet würden, würde sie mit dem Risiko eines Leistungsverlusts belastet. Dieser Weg sei nicht geeignet, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Dialog mit dem Versicherungsunternehmen zu gewährleisten.

Die angegriffenen Entscheidungen lassen laut BVerfG beim Ausgleich der Grundrechtspositionen auch unberücksichtigt, dass es das beklagte Versicherungsunternehmen nicht unverhältnismäßig belasten müsse, wenn von ihm eine weitere Einschränkung der geforderten Einzelermächtigungen verlangt werde. Zwar könne der Umfang der Einzelermächtigungen dabei nicht vornherein schon auf die für die Prüfung des Leistungsanspruchs relevanten Informationen begrenzt werden. Werde die Schweigepflichtentbindung aber zunächst auf solche Vorinformationen beschränkt, die ausreichen, um festzustellen, welche Informationen tatsächlich für die Prüfung des Leistungsfalls relevant seien, könnte so der Umfang der überschießenden Informationen begrenzt und damit dem Recht der Beschwerdeführerin auf informationelle Selbstbestimmung Rechnung getragen werden. Die Verfahrenseffizienz würde durch eine solche grobe Konkretisierung der Auskunftsgegenstände nur geringfügig beeinträchtigt.

BVerfG, Beschluss vom 17.07.2013 – 1 BvR 3167/08

(Quelle: Beck online)