Der EuGH hat entschieden, dass Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub übertragen und angesammelt werden können, wenn man ihn aus Gründen, die in der Verantwortung des Arbeitgebers liegen, nicht nehmen kann.

Herr Conley K. arbeitete für The Sash Window Workshop (SWWL) auf der Basis eines „Selbständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision“ von 1999 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2012. Gemäß diesem Vertrag erhielt K. ausschließlich Provisionen. Wenn er Jahresurlaub nahm, wurde dieser nicht bezahlt. Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte K. von seinem Arbeitgeber die Zahlung einer Vergütung sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten, als auch für nicht genommenen Jahresurlaub für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung. SWWL wies die Forderung von K. zurück, der daraufhin Klage beim zuständigen Employment Tribunal (Arbeitsgericht, Vereinigtes Königreich) erhob. Am Ende dieses Verfahrens stellte das Employment Tribunal fest, dass K. „Arbeitnehmer“ im Sinne der britischen Rechtsvorschriften sei, mit denen die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. 2003, L 299, 9) umgesetzt wurde, und einen Anspruch auf Vergütung für bezahlten Jahresurlaub habe. Der in der Rechtsmittelinstanz mit der Sache befasste Court of Appeal (England and Wales) (Berufungsgericht von England und Wales, Vereinigtes Königreich) dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung dieser Richtlinie vorgelegt. Insbesondere möchte er wissen, ob es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung für diesen Urlaub hat.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Arbeitnehmer die Möglichkeit haben muss, nicht ausgeübte Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu übertragen und anzusammeln, wenn der Arbeitgeber ihn nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.

Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen und ausdrücklich in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist. Der Zweck dieses Anspruchs liege darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Arbeitnehmer, der mit Umständen konfrontiert sei, die geeignet seien, während seines Jahresurlaubs Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auszulösen, sei jedoch nicht in der Lage, diesen Urlaub voll und ganz zu genießen. Solche Umstände könnten den Arbeitnehmer außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Insoweit verstoße jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die eine derartige abschreckende Wirkung haben könne, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel.

Die Mitgliedstaaten müssten in diesem Zusammenhang die Beachtung des in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisten. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache wäre dieses Recht nicht gewährleistet, wenn in dem Fall, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nur unbezahlten Urlaub gewähre, der Arbeitnehmer sich vor Gericht nicht auf seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub als solchen berufen könnte, sondern zunächst gezwungen wäre, unbezahlten Urlaub zu nehmen und dann dessen Bezahlung einzuklagen. Nach Ansicht des EuGH ist dies nicht mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar. Das Unionsrecht verbiete es also, dass der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub nehmen müsse, ehe er feststellen könne, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung habe.

Das Unionsrecht stehe einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegen, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt sei, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden seien, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln. Der EuGH weist insoweit auf seine Rechtsprechung hin, wonach ein Arbeitnehmer, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat. In den dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Rechtssachen waren die betreffenden Arbeitnehmer wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten an der Ausübung dieses Anspruchs gehindert.

In diesem Zusammenhang hat der EuGH, um den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten zu schützen, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können, entschieden, dass das Unionsrecht einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub auf einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten begrenzen, nach dessen Ablauf der Anspruch erlischt. Dagegen erscheine unter Umständen wie denen der vorliegenden Rechtssache ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht zwingend notwendig, insbesondere da die Beurteilung des Anspruchs eines Arbeitnehmers wie K. auf bezahlten Jahresurlaub nicht mit einer Situation in Zusammenhang stehe, in der sein Arbeitgeber mit Abwesenheitszeiten von K. konfrontiert gewesen wäre. Der Arbeitgeber konnte vielmehr davon profitieren, dass K. seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen habe. Daher obliege es dem Arbeitgeber, sich umfassend über seine Verpflichtungen im Bereich des bezahlten Jahresurlaubs zu informieren.

Der EuGH hat daher entschieden, dass anders als im Fall eines Arbeitnehmers, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat. Ließe man, wenn es keine nationale Vorschrift gebe, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts vorsehe, ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde somit im Ergebnis ein Verhalten gebilligt, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führe und dem Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufet.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 126/2017 v. 29.11.2017